„Madame, please stay calm and open your luggage!“ Ein Polizist leuchtet mir mit seiner Taschenlampe direkt in die Augen, kurz nachdem er den Vorhang meines Schlafplatzes im Sleeper-Bus aufgerissen hat. Beinahe die Buchse eingenässt. Das wär mal richtig blöd gewesen, es liegen nämlich noch 7 Stunden Fahrt vor mir. Eine Routinekontrolle, wie sich herausstellt. Trotzdem hab ich jetzt Herzrasen. Geschlafen habe ich bisher aber sowieso noch nicht und wie sich gleich zeigen wird, werde ich auch den Rest der Nacht kein Auge zumachen. Ich habe schon so einige Nachtfahrten hinter mir und habe bereits mit super vielen, unterschiedlichen Verkehrsmitteln irgendwelchen Grenzen überquert und dabei wirklich die interessantes Erfahrungen gesammelt. Aber man lernt nie aus, wie mir heute mal wieder bewusst wird.
Als wir weiterfahren, kühlt der Bus binnen Sekunden auf gefühlte 15 Grad runter. Wie immer. Die knallbunten Dekoleuchtstäbe werfen alles in ein grelles Licht. Ein grummeliger Inder steuert mit seinem Iphone die Musikbox, aus der ein Techhouse Sound aus dem vorletzen Jahrzehnt kommt. Wir fahren kurz von der Hauptstraße ab und biegen auf eine super hügelige Schotterpiste ab. Ein bisschen weniger Abendessen hätte es vielleicht auch getan, wie mir in diesem Moment bewusst wird. Ich werde aus meinen Sitz gehebelt und stoße mir mehrfach Kopf und Knie an irgendwelchen Ecken und Kanten. Das wird blaue Flecken geben und ich werde wieder aussehen wie ein Rüpel. Wie immer. Wir bremsen im 20 Sekunden Takt immer aprupt ab, um im Anschluss für die nächsten 400 Meter rapide zu beschleunigen . Bestimmt ist es gleich vorbei.
Wir verlassen den fürchterlichen Weg bis zur Ankunft in Hampi nicht mehr. Es stellt sich heraus, dass das einfach die Hauptstraße ist, die dort hinführt. Knappe 500 Kilometer fahren wir mit einer Stundengeschwindigkeit von 40, wofür wir insgesamt 10 Stunden brauchen.
Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war, mein Yogaretreat in Goa zu verlassen. Für einen Ort, der aus Steinen, Tempeln und Reisfeldern besteht. Und dessen Anfahrt meine Erholung der gesamten letzten Woche zu Nichte macht. Wahrscheinlich war Hampi eine scheiß Idee, schießt es mir durch den Kopf.
Als wir ankommen, stolper ich schlaftrunken und völlig durch aus dem Bus und falle in die Arme von rund 20 Tuk-Tuk Fahrern. „Miss Miss Miss Miss Miss where are you going and what are you doing later? I can bring you to the Hostel and then we can start directly with a Tempel Tour. Cheap Cheap!!!“ Ich gebe mich einfach hin, nehme den, der am freundlichsten ausschaut und lasse mich einmal komplett über den Tisch ziehen. Egal.
Entsetzt bin ich trotzdem. Weil ich zum ersten Mal in Indien bin, habe ich mir für die erste Nacht eine Unterkunft gebucht. Waterfall Guesthouse heißt das Schmuckstück, aus dessen Namen ich erschlossen hatte, dass es wohl bei einem Wasserfall sein muss. Ist es aber nicht. Alle anderen Traveler werden Richtung Hampi Hippie Island gebracht. Ich hingegegen werde als einzige weit weg in die Ferne gefahren, irgendwo im Nirgendwo. Zu den Steinen. Toll.
Meine Unterkunft stellt sich als kleines Homestay heraus. Im Hof stehen zwei Kühe, die zur Begrüßung einen riesen Fladen hinkacken. Ein Mann kommt aus einem alten Verschlag, macht die Fladen weg und beginnt, die Kühe zu melken. Seine Frau gesellt sich in einem knallbunten Gewand dazu und wäscht ihr kleines Baby irgendwo draussen an einem uralten Wasserhahn, direkt neben einer Feuerstelle. Hier soll ich also wohnen.
Der Mann stellt sich als Besitzer raus, bietet mir einen Kaffee an und 20 Gramm Gras. Sein zweites Business, wie er mir verrät, sonst kommt man hier ja zu nix. Das glaub ich ihm sofort, mein Zimmer kostet gerade mal 8 Euro pro Nacht, im Vergleich zu Goa ist auch das Essen sau billig. Ca 2 Euro für ein leckeres Thali, das entweder seine Frau oder sein Bruder kochen.
Ich hatte mich für das Zimmer entschieden, weil es bei booking.com recht gut bewertet war. Als ich das kleine Vorhängeschloss öffne, hebelt sich die gesamte Bambustür aus dem Scharnier und ich habe sie in der Hand. Das Absperren kann ich mir dann quasi sparen. Der Raum ist ein wenig speziell, ich glaube, es gibt sehr viele Menschen, die rückwärts wieder rausgelaufen wären. Aber das Zimmer ist sauber und mit dem kleinen bisschen Used-Look komme ich zu Recht, ist ja nur zum Schlafen. Zwei Tage verbringe ich an diesem speziellen Ort mit einer indischen Familie und bin trotz Ranz-Hütte absolut glücklich damit. Der Besitzer sitzt den ganzen Tag auf seinen bunten Sitzmatten, erzählt Geschichten aus seinem Leben. Vor knapp drei Jahren hat ein Sturm seine ganze Bude niedergerissen, alles war weg, Geld hatte er auch keines mehr. „But money doesn´t matter“, wiederholt er sich ständig. Seinen Hof hat er wieder aufgebaut, und heute lebt er hier, super zufrieden mit dem was er hat, wie er mir erzählt. Seine Frau wirkt ein wenig eingeschüchtert, spricht kein gutes Englisch. Die beiden wurden einfach verheiratet, sie wurde ihm quasi zugeteilt. Unglaublich normal in Indien, beinahe unvorstellbar bei uns. Würde aber vielleicht einen großen Batzen Probleme minimieren, wie es mir durch den Kopf schießt. Auf jeden Fall scheint hier jeder unglaublich zufrieden zu sein, mit dem was er hat, und das ist schön. Ich werde wirklich herzlich aufgenommen, bekomme den ganzen Tag unglaublich leckeres Essen und außerdem einen billigen Roller, mit dem ich durch die Gegend heize.
Eigentlich wollte ich einen Tag auf dieser Seite vom Fluß ein bisschen die Gegend erkunden, am nächsten Tag auf der anderen Seite die Tempel besichtigen. Danach sollte es nach Gokarna gehen, dann noch eine Freundin in Galgibaga besuchen und dann zurück nach Palolem und noch ein paar Tage am Strand chillen. So der Plan.
Ein Plan, der nicht aufgegangen ist.
Die Zeit in meiner liebenswerten Bruchbude auf dem kleinen Hof ist vorbei und weil es mir in Hampi bisher so gut gefallen hat, entscheide ich mich dazu, noch einen Tag zu bleiben. Allerdings in einer anderen Unterkunft, ich will nicht mehr ab vom Schuss leben, sondern in Hampi Hippie Island, wie sie es so schön nennen. Eigentlich keine Insel, sondern einfach nur ein kleiner Weg mit einigen Unterkünften an einem Fluß. Überall verkaufen irgendwelche Hippies selbstgebastelten Schmuck.
Ich lerne einen Local kennen, lasse mich einlullen und beziehe die Hütte, die er mir empfielt. Wieder eine Bruchbude, allerdings mit soviel Charme, dass ich wirklich nicht nein sagen kann. Es dauert keine fünf Minuten, schon lädt er sich selbst ein, setzt sich auf meinen Balkon und erzählt mir Hampi-Gossip. Ein feiner Kerl, der mir außerdem noch einen coolen Wasserfall zeigt und wirklich mehr als hilfsbereit ist. Ohnehin sind hier alle unglaublich entspannt drauf, meine Sorge, alleine in Indien rumzueiern, war auf jeden Fall unbegründet. Ich fühle mich wohl.
Am Abend sitze ich alleine in einem Restaurant und werde von Mara angequatscht. Mara ist 26, Fotografin, und vor einiger Zeit ist ihr komplettes Haus in Lindau abgebrannt. Sie hat nichts mehr, außer ihren Rucksack. Und mit dem ist sie mittlerweile seit einem Jahr in der Weltgeschichte unterwegs. Bald geht es für sie nach Hause, und dann wird einfach noch mal von ganz vorne angefangen. Sie will sich ein Grundstück kaufen und darauf bauen. Eine super taffe Frau, die mich unglaublich inspiriert. Und dazu überredet, noch einen Tag in Hampi ranzuhängen. Sie hat zwei Jungs im Gepäck, Sean aus London und Spiros aus Griechenland. Vor Ort lernen wir noch Stephen aus Kenia kennen und bilden fortan an die Slow-Motion Group. Alles was wir tun, braucht ewige Anlaufzeit und geht unglaublich langsam von statten. In dieser Gesellschaft fühle ich mich wohl.
Wir gestalten unsere Tage schön. Jeden Tag entscheide ich mich dazu, noch einen Tag zu bleiben. Wir klettern in Steinbrüchen rum und schauen uns Sonnenauf- und Untergänge an, chillen den ganzen Tag in Hampi, essen fein. Besichtigen Tempel, Wasserfälle, Kneipen. And so on.
Eigentlich sollte ich schon längst zurück in Goa sein, wo es wirklich auch zauberschön war. Aber irgendwas hält mich in Hampi fest, wie eine unsichtbare Schnur. Man soll ja bekanntlich gehen, wenns am schönsten ist. Aber irgendwie ist jeder Tag der Schönste. Ganz zum Schluss nehme ich noch ein Festival mit. Holy, das kennt wohl jeder, gibt’s ja mittlerweile auch in Deutschland. Ein indisches Frühlingsfest, das passt zu meiner Stimmung. Wir kaufen uns Farben, kleiden uns weiß und schmieren und gegenseitig voll. Die Straßen sind voll mit Menschen, alle hüpfen zu geilen elektronischen Beats wie die Gestörten rum, feiern sich im Allgemeinen und das Leben im Besonderen. Wir machen den ganzen Tag mit.
Am Abend schlägt leider Stunde null. Ich muss nun wirklich gehen, sonst verpasse ich meinen Heimflug. Im Nachhinein betrachtet wäre das eigentlich ganz nett gewesen. Eine Träne rollt über meine Wange, als ich mich von Mara und den anderen verabschiede. So eine schöne Zeit war das hier. Der Rest der Slow Motion Crew bleibt noch ein paar Tage und muss sich dann ebenfalls trennen, alle verstreuen sich einmal quer über den ganzen Globus. Schweren Herzens laufe ich zum Bus und wuchte mich mit letzter Kraft auf meinen Schlafplatz. Diesmal weiß ich ja was mich erwartet. Der Technobeat geht los, die Temperatur sinkt, die schreckliche Fahrt nimmt ihren Lauf. Mir egal, ich bin tiefenentspannt. Ich sehe die Steine, Tempel und Reisfelder an mir vorbei ziehen und merke, wie meine ganze Wange nass wird. Eine junge Frau sitzt gegenüber, ebenfalls mit glasigen Augen, und schaut mich an. „In Love with Happy Hippie Hampi“? „Oh yes“ antworte ich ihr, schließe meine Augen und freue mich. Das Leben ist schön.